Minima Moralia - 5
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Herr Doktor, das ist schön von Euch. - Es gibt nichts Harmloses mehr. Die kleinen Freuden, die Äußerungen des Lebens, die von der Verantwortung des Gedankens ausgenommen scheinen, haben nicht nur ein Moment der trotzigen Albernheit, des hartherzigen sich blind Machens, sondern treten unmittelbar in den Dienst ihres äußersten Gegensatzes. Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält. Mißtrauen ist geraten gegenüber allem Unbefangenen, Legeren, gegenüber allem sich Gehenlassen, das Nachgiebigkeit gegen die Übermacht des Existierenden einschließt. Der böse Hintersinn des Behagens, der früher einmal auf das Prosit der Gemütlichkeit beschränkt war, hat längst freundlichere Regungen ergriffen. Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverständnis zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhöhlen. Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus. Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander reden kann, und das lose, gesellige Wort trägt bei, das Schweigen zu perpetuieren, indem durch die Konzessionen an den Angeredeten dieser im Redenden nochmals erniedrigt wird. Das böse Prinzip, das in der Leutseligkeit immer schon gesteckt hat, entfaltet sich im egalitären Geist zu seiner ganzen Bestialität. Herablassung und sich nicht besser Dünken sind das Gleiche. Durch die Anpassung an die Schwäche der Unterdrückten bestätigt man in solcher Schwäche die Voraussetzung der Herrschaft und entwickelt selber das Maß an Grobheit, Dumpfheit und Gewalttätigkeit, dessen man zur Ausübung der Herrschaft bedarf. Wenn dabei, in der jüngsten Phase, der Gestus der Herablassung entfällt und Angleichung allein sichtbar wird, so setzt gerade in solcher vollkommenen Abblendung der Macht das verleugnete Klassenverhältnis um so unversöhnlicher sich durch. Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.
-- 1944 --